Ein Wohlfühl-Land scheint Deutschland nicht zu sein, zumindest nicht für viele qualifizierte Zuwanderer, die nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Wirtschaftskraft leisten könnten. Rauswurfphantasien, die einem völkischen Reinheitsgebot huldigen, eine eher derbe Kultur von Gastlichkeit bis zu offen rassistischer Anfeindung lassen die einen an einem weiteren Aufenthalt zweifeln, die anderen erst gar nicht eine Reise nach Deutschland in Betracht ziehen. Und so ist es ungewiss, ob das Land die dringend benötigte Zahl an rund 400.000 Zuwanderern jährlich erreichen wird, um wirtschaftlich zu bestehen.
Baustellen, Gaststätten, Pflegeheime, Krankenhäuser oder Speditionen – in Deutschland gibt es sie noch, weil Fachkräfte aus dem Ausland hier arbeiten. Auch in vielen anderen Wirtschaftszweigen würde ohne zugewanderte Beschäftigte kaum etwas funktionieren. Über ein Viertel (26 Prozent) aller Beschäftigten haben eine Einwanderungsgeschichte.
In der Altenpflege sind es 31, in der Fleischverarbeitung 42, im Lebensmittelverkauf 41 Prozent. Von den bundesweit rund 400.000 Ärzten kommen etwa 64.000 aus dem Ausland. Ohne sie „könnten wir die Patientenversorgung nicht mehr gewährleisten“, äußerte unmittelbar vor der Bundestagswahl Gerald Gaß, Vorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft. „Das sind alles Menschen, auf die wir nicht verzichten können – und es auch nicht wollen.“
Mit seinen Kollegen aus dem Gesundheitssektor sieht er aber mit großer Sorge, dass durch Schlagworte wie „Remigration“ und „Massenabschiebungen“ Ärzte und Pflegepersonal zutiefst verunsichert seien. Viele würden sogar darüber nachdenken, das Land wieder zu verlassen. Auch in anderen Branchen sieht es ähnlich aus. Nach Angaben des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung klagt jedes dritte Unternehmen über Fachkräftemangel.
Studien haben gezeigt, dass Deutschland insbesondere für hochqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland kein attraktives Zielland ist, weil es im internationalen Vergleich an einer Willkommenskultur fehlen lässt.
So sind zwischen 2015 und 2022 laut einer Studie der Friedrich Ebert Stiftung über zwölf Millionen Menschen nach Deutschland gekommen. Allerdings haben im gleichen Zeitraum über sieben Millionen dem Land auch wieder den Rücken gekehrt. Als Grund gaben die für die Studie befragten Fachkräfte an, ursprünglich wegen guter Arbeits- und Ausbildungschancen gekommen zu sein, jedoch soziale Isolation und fehlenden gesellschaftlichen Anschluss erlebt zu haben.
Der Fachkräftemangel in Deutschland hält weiter an, auch wenn in den vergangenen Wochen deutlich geworden ist, dass in manchen Wirtschaftsbranchen mit Entlassungen und Einstellungsstopps zu rechnen ist. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) glaubt, dass bis zum Jahr 2035 bis zu 190.000 Stellen verloren gehen könnten.
Dagegen wird es in anderen Wirtschaftszweigen eine deutliche Nachfrage nach Mitarbeitern geben, zum Beispiel in der Informatik oder Software-Entwicklung und Elektrotechnik. So hat das Kompetenzzentrum Fachkräfte festgestellt, dass bis 2035 sieben Millionen Arbeits- und Fachkräfte fehlen könnten, auch weil in den nächsten Jahren die sogenannte Babyboomer-Generation in Rente geht.
Das trifft auch Brandenburg, wie die Märkische Allgemeine dieser Tage meldete. Laut einer Umfrage in den Landkreisen des Bundeslandes wird fast überall darüber geklagt, dass für Ingenieur-, Arzt- oder Fachkräfte-Stellen kaum Bewerber oder Bewerberinnen gefunden werden.
„Beschäftigte mit Einwanderungsgeschichte in vielen Mangelberufen überdurchschnittlich stark vertreten“ (Statistisches Bundesamt)
„Gesundheitsbranche warnt vor Mangel an Fachkräften“ (Apotheken-Umschau)
Marcel Fratscher, „Deutschland braucht 400.000 Migranten – pro Jahr“ (DIW)
„Was Arbeitsmigration Staat und Wirtschaft bringt“ (Deutschlandfunk)
„Rückgang der Fachkräftelücke, aber keine Entspannung“ (Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung)
„Der Innovationsbeitrag von Migranten nach Branchen“
(Institut der Deutschen Wirtschaft)
Friedrich Ebert Stiftung, „Abwanderung verstehen – Rückkehr gestalten“ (FES)
„Experte warnt: AfD-Aufstieg wird zum Nachteil für Wirtschaftsstandort Deutschland“ (MAZ)
„Landkreise klagen über Personalmangel“ (MAZ)
Mehr als acht von zehn Betrieben erwarten Personalprobleme (IAB-Kurzbericht)